Stefan Schweizer (41):

“Wir waren doch bloss in den Ferien!”

Stefan ist Bürokaufmann bei einer Bank in Münsingen. Er ist mit Yasmin, einer gebürtigen Türkin, verheiratet. Sie arbeitet als Lehrerin, ebenfalls in Münsingen.

Die Sommerferien will das Ehepaar Schweizer bei der Familie von Yasmin in der Türkei verbringen. Da sie noch nicht wissen, wie lange sie bleiben wollen, kaufen sie noch kein Rückflugticket. Das scheint der Flughafenpolizei suspekt: Sie registrieren die Personalien von Herr und Frau Schweizer deshalb unmittelbar im Auftrag des Nachrichtendienstes (NDB) im Rahmen der “Prävention gegen Dschihad- Rekrutierung”. Fortan werden die E-Mails und SMS-Nachrichten von Stefan überwacht. Als auf einem der Ferienfotos auch türkische Militäranlagen zu sehen sind, überprüft der Nachrichtendienst die Kontodaten und die gesamten Browser-Verläufe der Familie. Die erstellten Datensätze werden im Rahmen der Nato-Kooperation auch mit dem türkischen Geheimdienst des Erdogan-Regimes ausgetauscht. Zahlungen an Yasmins Verwandte lassen die Ermittlern aufhorchen: Sie verdächtigen Herr und Frau Schweizer nun ernsthaft, worauf sie Nachforschungen an Yasmins Schule und bei Stefans Arbeitgeber anstellen.

Die Sicherheitsüberprüfung vermag keinen Verdacht zu erhärten: Die Namen des Ehepaars Schweizer bleiben jedoch in der Datenbank des NDB gespeichert. Als Stefan sich Jahre später intern der Bank für eine andere Stelle bewirbt, bekommt er diese nicht. Die Bank hatte sich für die Vergabe dieses sensiblen Jobs Auskunft beim NDB eingeholt und verweigert ihm nun diesen. Stefan wiederum wird nie erfahren, wes- halb er Seine Traumstelle nicht erhalten hat.

Dieser düstere “Fall Schweizer” könnte mit dem neuen Nachrichtendienstgesetz bald Realität werden. Informieren Sie sich jetzt über weitere Szenarien (unten) und die neuen Überwachungsmöglichkeiten des NDB!

 

Katharina Alexander (31):

“Meine Privatsphäre geht den Staat nichts an!”

Katharina wohnt in Bern. Als sie am Samstag um einzukaufen zum Bahnhof gehen will, gerät sie mitten in eine unbewilligte Demonstration gegen die Berner Sparmassnahmen. An der Demonstration wird randaliert, und Katharina versucht, den Demozug sofort wieder zu verlassen. Doch noch bevor ihr das gelingt, wird der Demoabschnitt, in dem sie sich befindet, von der Polizei eingekesselt und die Personalien aller anwesenden Personen werden kontrolliert. Katharina versichert den PolizistInnen mehrfach, dass sie nichts mit der Demonstration zu tun hat, schliesslich wollte sie nur einkaufen gehen, doch glaubt man ihr nicht. Bei einer kurzen Untersuchung von Katharinas Internetnutzung kann der Nachrichtendienst ausmachen, dass sie in der Vergangenheit bereits Kontakt mit jemandem hatte, der heute wegen Sachbeschädigung und Landfriedensbruch verdächtigt wird. Das reicht, um Katharina auf den Überwachungsschirm des Nachrichtendienstes zu bringen.

Zwar ist Katharina nicht per se verdächtig, etwas verbrochen zu haben, aber nach Artikel 28 des neuen Nachrichtendienstgesetzes dürfen auch gegen sie als unverdächtige Drittperson gewisse Massnahmen ergriffen werden. So erfasst der Nachrichtendienst ab sofort Katharinas Metadaten und die Informationen, die sie via Telefon- und Internetnutzung verschickt. Katharinas Telefon- und Internetanbieter ist gezwungen, bei dieser Überwachung zu kooperieren, ohne Katharina zu informieren. Der Nachrichtendienst liest unter anderem Katharinas Kommunikation mit ihren FreundInnen, ihren ArbeitskollegInnen, aber auch die E-Mails, die Katharina regelmässig an ihre Psychotherapeutin verschickt, wenn sie Rat braucht. Er liest auch mit, als Katharina in diesen E-Mails peinliche private Informationen schildert und von ihrem Privatleben berichtet.

Katharinas private Angelegenheiten werden vor dem ganzen Nachrichtendienst offengelegt und machen sie zur gläsernen Bürgerin, die nie erfahren wird, dass oder wieso sie überwacht wird. Ohne, dass sie jemals gegen das Gesetz verstossen hätte.

 

Matthieu Mahmud (19):

“Meine Mutter hatte eine Riesenangst.”

Matthieu lebt bei seinen Eltern und spielt gerne First-Person-Shooter-Spiele, auch bekannt als Ego-Shooter. Sein Lieblingsspiel ist „Call of Duty“, welches er jeden Tag mit seinen Freunden spielt. Aus Interesse beginnt Matthieu, die Waffentypen aus dem Spiel bei Google zu suchen und sich darüber zu informieren, welche Waffe auch im echten Leben so gut ist wie im Spiel. Durch seine Suchanfragen fällt Matthieu in die automatische Kabelaufklärung des Nachrichtendienstes. Das heisst, dass seine Anfragen automatisch erfasst und überwacht werden und er auf den Radar des Nachrichtendienstes gerät. Seine intensiven Recherchen über Schusswaffen, verbunden mit der irakischen Herkunft von Matthieus Vater, sind dem Nachrichtendienst extrem suspekt und machen Matthieu verdächtig.

Da der Nachrichtendienst sich nicht mit der Überwachung von Matthieus Telefon- und Internetnutzung zufriedengeben möchte, beauftragt er nach Artikel 34 Abs. 2 des neuen Nachrichtendienstes eine Privatperson – einen Nachbarn aus Matthieus Dorf – mit nachrichtendienstlichen Beschaffungsaufgaben über Matthieu. Der Nachrichtendienst kontaktiert ebenfalls Matthieus Schule, um Informationen über sein Sozialleben und seine Noten in Erfahrung zu bringen. Als Matthieu dann, auf den Wunsch seiner Mutter hin, seinen Grossonkel im Irak anruft und diesem auf Arabisch zum Geburtstag gratuliert, fühlt sich der Nachrichtendienst in seinem Verdacht bestätigt, und schickt einen Polizisten bei den Mahmuds vorbei, der Matthieu und seine Familie zu verhören beginnt. Matthieus Mutter bricht vor Angst und Verwirrung in Tränen aus. Ihr Sohn hat doch kein Verbrechen begangen!

 

Sandra Blanche (51):

“Ich machte nur meinen Job.”

Sandra Blanche (51) ist Journalistin in der Schweiz, hat ihre familiären Wurzeln aber in den USA. Ihr neuster Artikel handelt von Terroranschlägen in den USA. Bei der Suche nach Informationen im Internet benutzt Sandra Suchbegriffe wie „Schnellkochtopf-Bombe“, die in den Rahmen der automatischen Kabelaufklärung des Nachrichtendienstes fallen. Das heisst, dass Sandras Anfragen automatisch erfasst und überwacht werden und sie auf den Radar des Nachrichtendienstes gerät. Daraufhin möchte der NDB mehr über Sandras Internetnutzung in Erfahrung bringen und fordert ihren Telekomanbieter zur Kooperation auf. Er ist verpflichtet, mit dem NDB zusammenzuarbeiten, Daten zu liefern und die Verschlüsselung zu entfernen, ohne dass er Sandra darüber informieren darf. So wird Sandras ganze Internetverbindung bald automatisch vom NDB aufgeschlüsselt und gespeichert, ohne dass sie etwas davon weiss.

Im Rahmen des automatischen Informationsaustausches teilt der Schweizer Nachrichtendienst gewisse Informationen aus seinen Untersuchungen automatisch mit der NSA. Darunter auch alle Erhebungen über Personen, die im Zusammenhang von Terroranschlägen überwacht werden. Sandra fällt in diese Kategorie, sodass die NSA laufend und automatisch Informationen über Sandras Internetnutzung erhält; dass sie so viel und so genau über die Funktionsart von Bomben recherchiert, bringt sie somit unter Verdacht.

Als Sandra einige Wochen darauf in die USA reisen möchte, um bei der Hochzeit ihrer Schwester dabei zu sein, wird sie in New York am Flughafen bei der Passkontrolle aufgehalten, in ein Hinterzimmer geführt und stundenlang mit Fragen bombardiert. Sie ist völlig perplex – in ihrem ganzen Leben kam sie noch nie mit dem Gesetz in Konflikt!

 

Tim Rüdiger (35):

“Als Arzt darf mir so etwas nicht passieren!”

Tims Bruder, mit dem er den Kontakt schon vor Jahren abgebrochen hat, wurde vor kurzem wegen Rassendiskriminierung und Mitgliedschaft in einer verbotenen Neo-Nazi-Partei in Deutschland verhaftet. Der NDB verdächtigt auch Tim, bei der verbotenen Organisation Mitglied zu sein, und nimmt ihn auf den Schirm. Er beginnt, Tims Internetnutzung und Telefongespräche zu überwachen, analysiert rückwirkend sein Internet-Verbindungsarchiv und ortet Tim mehrmals täglich über sein Handy. Besonders problematisch: Tim ist Arzt und kommuniziert im Rahmen seiner Arbeit sowohl mit PatientInnen, wie auch mit KollegInnen oft via E-Mail und Telefon. Durch das Abhören seiner Telefongespräche werden also nicht nur private Informationen über Tim, sondern auch über alle KundInnen seiner Praxis offengelegt. Auch das Spital, in dem Tim früher internierte, muss als „Organisation mit öffentlichen Aufgaben“ Auskunft über Tims Arbeit und seine PatientInnen geben, als der NDB sie kontaktiert. Peinlichste Informationen über die Krankheiten und Privatleben von Tims PatientInnen werden so offengelegt, ohne dass sie jemals etwas falsch gemacht haben.

Eines Tages erzählt Tim einem Freund vom Verbrechen und der Strafe seines Bruders. Der Freund kennt sich mit dem Recht aus und kann sich noch an die Gegenkampagne zum NDG erinnern, weshalb er Tim rät, doch beim Nachrichtendienst Unterlagen über sich anzufordern. Tim macht das, und muss zuerst einmal fast ein Jahr warten, bis er die Auskunft erhält. Erst danach findet er heraus, wie lange und aus welchen fadenscheinigen Gründen er überwacht wurde, und wie viele private Informationen über seine PatientInnen ermittelt wurden. Hätte Tim nicht nachgefragt, wären diese schweren Eingriffe in die Privatsphäre für immer geheim geblieben. Doch auch so sind sie legal. Für Tim ist klar: Als Arzt, der das Berufsgeheimnis und die Privatsphäre seiner PatientInnen schützen will, ist das NDG ein No-Go!

 

Samira Löffel (24):

“Ich wurde klar für meine Herkunft bestraft.”

Samiras Familie lebt seit drei Generationen in der Schweiz, kam aber ursprünglich aus Syrien. Als die Lage in Syrien zum wiederholten Mal eskaliert und es zum offenen Krieg kommt, entscheidet sich der NDB, alle SchweizerInnen syrischer Herkunft zu überwachen – so wie er es schon mit irak-stämmigen SchweizerInnen beim Ausbruch des Irakkrieges tat. Der NDB überwacht Samiras Post, Internetverkehr und Telefonate. Darüber hinaus fordert er von ihrer Universität Informationen über Samiras Noten und Arbeiten ein. Einmal durchsucht der NDB sogar Samiras Auto, was er nach Artikel 26 des neuen Nachrichtengesetzes problemlos darf, und auch im Nachhinein nicht offenlegen muss. Dass er gegen Samira keinen Verdacht hat und sie nie ein Verbrechen begangen hat, ist dabei rechtlich dank dem NDG kein Problem.

Einmal in der Woche besucht Samira eine Versammlung einer Organisation für syrische SchweizerInnen und Diaspora. Dort kochen die Mitglieder gemeinsam und unterhalten sich über die Lage in Syrien. Der Verein leistet auch viel freiwillige gemeinnützige Arbeit, zum Beispiel mit seiner jährlichen Kleidersammlung für Flüchtlinge und seinem gratis Rechtsbeistand für syrische Neuankömmlinge in der Schweiz. Dem NDB ist der Verein wegen der hohen Konzentration syrischer Menschen und neu-angekommener SyrierInnen jedoch suspekt. Er erteilt zuerst ein Verbot der Tätigkeiten der Organisation mithilfe von Artikel 73 des NDGs und vernichtet damit die Kleidersammlung und den Rechtsbeistand. In einem zweiten Schritt wird der Verein komplett verboten. Wer weiter Mitglied ist, oder die Organisation zu unterstützen versucht, macht sich laut Artikel 74 des NDGs strafbar. Samira ist entsetzt: Dass so ein Rassismus in der Schweiz des 21. Jahrhunderts noch existieren kann, hätte sie nie gedacht!